Eine europaeische Universitдt: Besuch im tatarischen
Kasan
Die in Zentralrussland lebenden Tataren sind nicht nur das
noerdlichste, sondern, inmitten orthodoxer Russen und spaet
christianisierter finnougrischer Ethnien siedelnd, auch das am
meisten saekularisierte Volk muslimischen Glaubens. Es ist
geprдgt von russischer Zivilisation und sowjetischer Moderne.
Die tatarische Hauptstadt Kasan ist Sitz moderater Mullahs und
der 1998 neu erцffneten "Ruяlдndischen islamischen
Universitдt". Hier wird ein ruяlдndischer Islam gelehrt, der zum
nichtislamischen Staat loyal ist und seit Jahrhunderten an
Toleranz gegenьber Andersglдubigen gewцhnt.
Das liegt sicherlich auch daran, daя Kasan, wo einst der
revolutionдre Staatsgrьnder Lenin Jura studierte, ein altes
akademisches Zentrum ist, das heute zu den zehn fьhrenden
Hochschulen des Landes gehцrt. "Wir brauchen neue
Koranschulen", sagt der an der Universitдt lehrende Historiker
Myrkassim Usmanow, "denn uns fehlt heute eine gebildete
islamische Geistlichkeit, die von der Sowjetmacht vernichtet
worden ist." Radikalen Islamismus hдlt der bejahrte Usmanow
fьr ein gefдhrliches Symptom von Unbildung und
Rьckstдndigkeit. Auf der anderen Seite findet er es aber
unverzeihlich, daя die Vereinigten Staaten in Afghanistan mit
ihrem Krieg ein ganzes Land bestraft haben, statt sich auf
polizeiliche Einsдtze zu beschrдnken.
Die Kasaner Universitдt wurde zu Beginn des neunzehnten
Jahrhunderts nach Petersburg und Moskau als dritte des
Russischen Imperiums gegrьndet. Dadurch sollte die
geistig-kulturelle Kolonisierung der цstlicheren Randgebiete
gefцrdert, aber auch dieser Kolonisierung ein attraktiveres und
mehr zivilisiertes Gesicht verliehen werden. Die Grьndung der
Hochschule brachte seinerzeit viele deutsche Gelehrte in die
Stadt an der Wolga, wie ja ьberhaupt das russische
Bildungssystem der Petersburger Epoche in vielem dem
deutschen nachgebildet wurde. An den damals angesehensten
deutschen Universitдten ausgebildete Dozenten bauten in Kasan
die Fakultдten fьr Geschichte und Jurisprudenz, klassische
Philologie und Orientalistik, Physik und Medizin auf. Zu den
berьhmtesten Gelehrten gehцrt der Rostocker Philologe
Christian Frдhn (1782 bis 1811), der als Begrьnder der
russischen Orientalistik gilt und spдter an die Petersburger
Akademie der Wissenschaften berufen wurde.
Auf Empfehlung Alexander von Humboldts kam der
Braunschweiger Mathematiker Johann Bartels (1769 bis 1836),
zu dessen Schьlern Nikolai Lobatschewski zдhlt. Zur lokalen
Berьhmtheit wurde der Herborner Mediziner Karl Fuchs (1776
bis 1846), der dreiяig Jahre in Kasan verbrachte und sich
neben seiner Profession als Wohltдter und Betreiber
literarischer Zirkel hervortat und dem der russische
Nationaldichter Alexander Puschkin und der
Forschungsreisende von Humboldt ihre Aufwartung machten.
An Bergbauarbeitern aus dem Ural betrieb Fuchs Pionierstudien
ьber Berufskrankheiten, und seine Aufzeichnungen ьber Sitten
und Gebrдuche der Kasaner Tataren und anderer
Vцlkerschaften gehцren zu den ersten seriцsen
ethnographischen Arbeiten, die von der Forschung bis heute
geschдtzt werden. Im Jahr 1813 waren an der Kasaner
Universitдt von den 26 Professoren sechzehn Auslдnder, zwei
"Halbrussen", das heiяt russifizierte Deutsche, und nur acht
Russen. Eine russische Reaktion gegen die №berfremdung war
beinahe programmiert. An ihre Spitze setzte sich der zur
Beaufsichtigung des Lehrbetriebes berufene zaristische Beamte
Magnitzki, auf dessen Betreiben viele auslдndische Gelehrte als
"unzuverlдssig" entfernt und in der Folge der Lehrkцrper
russifiziert wurde. Zeitgenossen beschrieben diesen Aderlaя als
schweren Rьckschlag fьr das "halbasiatische Kasan", den die
nachrьckenden russischen Krдfte nicht ausgleichen konnten.
Denn die Wissenschaft war vielen gleichgьltig, und sie
betrachteten die Universitдt eher als Futterkrippe. Myrkassym
Usmanow, der heute wieder vielfдltige Kontakte zu "soliden"
deutschen Gelehrtenkollegen pflegt, schildert in seinem Abriя
der Universitдtsgeschichte, wie die besten deutschen
Wissenschaftler der Kasaner Grьnderzeit die Tugenden von
Strenge, Rationalitдt, gedanklicher Disziplin vorlebten und bis
an ihre Lebensende zu lernen und sich weiterzuentwickeln
versuchten (Vielfalt der Zusammenarbeit. Zum zehnjдhrigen
Jubilдum des Vertrags ьber die Zusammenarbeit zwischen der
Kasaner und der Gieяener Universitдt, Unipress Kasan 1999).
Unbeschadet einer islamischen Renaissance prдsentiert sich
Kasan als europдisch anmutende Universitдtsstadt. Wenn
Tataren heute mit Vorliebe dem russischen Nationalgetrдnk
Wodka zusprechen, dabei aber im Gegensatz zu den meisten
Russen Sinn fьr Maя erkennen lassen, so entspricht dies dem
Bild, das schon Karl Fuchs in seinen Studien von 1844
zeichnete. Seit einiger Zeit ist die №bernahme des lateinischen
Alphabets fьr das zu den Turksprachen zдhlende Tatarische im
Gesprдch.
Das wдre eine Rьckkehr zu einer zehn Jahre lang bis 1939
praktizierten Tradition, die durch einen Erlaя Stalins
abgebrochen wurde, der ьber Nacht eine nach Usmanows
Einschдtzung der Sprache nicht sehr angemessene Umstellung
auf eine Modifikation des Kyrillischen verordnete. Von einer
tьrkischen Orientierung, wie man im gegen den Wechsel
eintretenden Moskau vermutet, kцnne dabei keine Rede sein,
erklдrt Usmanow. Denn in Kasan sieht man auf die im
Hochschulwesen nicht konkurrenzfдhige Tьrkei eher herab.
Fьr die lateinische Schrift spricht nicht zuletzt das Internet, wo
auяerhalb der russischen Sphдre die kyrillische Schrift
unbrauchbar ist.
Radikal islamistische Kaderschmieden muя man in Tatarstan
suchen. Eine Adresse ist die Yolduz-Madrassa, dreihundert
Kilometer цstlich von Kasan in der von Arbeitslosigkeit
gezeichneten Industriestadt Nabereschnyje tschelny gelegen.
Nachdem bekannt geworden war, daя Yolduz-Absolventen in
Tschetschenien als Freischдrler kдmpften, wurden die
arabischen Dozenten nach Hause geschickt. Der Staat entzog
Yolduz die Lehrbefugnis und will die Schule schlieяen lassen.
Ihr in Saudi-Arabien ausgebildeter Leiter Ibragimow hдlt
fundamentalistischen Islam fьr den einzigen Islam und
ruяlдndischen Islam fьr Unsinn. Der sechsunddreiяigjдhrige
Ibragimow reprдsentiert offenbar eine neue Generation.
KERSTIN HOLM
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.12.2001, Nr. 289 / Seite N6